Pein stand im Gesicht des jungen Mannes, der durch die Menschenmenge direkt auf mich zustürzte, eine Kollision schien unvermeidbar. Sein Gesichtsausdruck machte klar: Er war nicht einverstanden mit dem Weg, den sein Körper eingeschlagen hatte, doch er fühlte sich ihm ausgeliefert.
Ich gab im letzten Moment nach und trat zur Seite. Dafür rannte mich fast eine bullige Frau nieder, die gerade der entgegengehaltenen Zeitung eines Abo-Werbers auswich. Verärgert von dieser Rohheit, schaute ich ihr böse hinterher. Mindestens zehn Stoffmäuse baumelten an ihrem Rucksack. Die sollten wohl ausdrücken, dass sie ansonsten ganz lieb sei.
Berliner Körper schießen kreuz und quer
Nach einem weiteren Beinahezusammenstoß vor den Schönhauser Allee Arcaden in Prenzlauer Berg begann mich die Sache zu interessieren. Vom Fitnessstudio im zweiten Stock des Einkaufszentrums hat man eine gute Draufsicht auf den Platz davor. Dort ließ ich das Rushhour-Getümmel, das sich unten abspielte, auf mich wirken.
Als seien sie lebendige Kanonenkugel schossen Passanten aus allen Richtungen kreuz und quer. Ein Zusammentreffen von ungelenken Berliner Körpern auf engstem Raum, ohne Regie und Choreografie.
Bilder aus „Koyaanisqatsi“ (USA, 1982) von Godfrey Reggio drängten sich mir auf. In diesem Film (Trailer, YouTube) addieren sich zur Musik von Philip Glass Aufnahmen von Naturzerstörung, riesigen Fabrikanlagen und Menschenmassen in urbanen Zentren zu einer Zivilisationsanklage.
Das Pumpen von Menschenströmen durch Straßen und U-Bahn-Stationen – zum großen Teil im Zeitraffer aufgenommen – dient als ästhetische Inszenierung von Entfremdung und Anonymität der modernen Großstadt.
Menschenmassen als erhabenes Schauspiel
„Leben im Ungleichgewicht“ bedeutet der Ausdruck „Koyaanisqatsi“ in der Sprache der Hopi-Indianer, die als Mahner zitiert werden. Doch der Film zeigt gerade das Funktionieren der Massengesellschaft und ihrer Verkehrsströme als erhabenes Schauspiel.
Vom reibungslosen Aneinandervorbeigleiten gleichgeschaltener Masseteilchen konnte bei dem Tumult, dessen Anblick sich auf der Schönhauser Allee unter mir bot, keine Rede sein. Von Erhabenheit schon gar nicht.
War es der Berliner Individualismus, der sich hier, auf viele Köpfe verteilt, selbst in die Quere kam? Eine Stadt voller Egos, immer am Rand der Massenkarambolage