Ein laues Lüftchen umweht mich, als ich kurz vor Schluss noch in den Kaufhof am Alexanderplatz eile. Der Securitymann am Eingang hält mir die Tür auf. Wir verstehen uns, er sorgt für meine Sicherheit, ich sorge für Umsatz. Die kurz geschorenen Haare, der ernste Blick – wir sehen uns sehr ähnlich. Es geht um Respekt, wir nicken uns zu, die Geste vereint zwei Klassen der Prekären, den Mann für das Grobe und den Medien-Freelancer, die Hand und den Kopf. Diese kurze Begegnung ist es nicht allein, noch mehr, ein Gefühl von Rettung und Versöhnung, liegt in der Luft. Ich spüre: Alles wird gut.
Später, an der Straßenbahnhaltestelle, habe ich Eindruck, dass weniger blaues Flimmern als üblich aus den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser strahlt. Die Leute schauen kein Fernsehen – was machen sie sonst? Die Frage ist überflüssig, ich weiß die Antwort: Sie lesen Zeitung, Magazine, hohe Stapel liegen vor ihnen, „Spiegel“, „Süddeutsche“, „FAZ“, „Tagespiegel“, auch die neue Ausgabe der Berliner Stadtmagazins „Tip“, auf dessen Cover die Macher und Mimen des „Baader Meinhof Komplex“ wie auf einem RAF-Fahndungsplakat abgebildet sind.
Textstellen sind umrandet, Artikel wurden ausgeschnitten und zusammengeheftet, die Bastelarbeit verbindet Paare, die vor dem Aus standen, sie sprechen wieder miteinander. Sie: „Meinst du, dass Eichinger über die Dreharbeiten hinwegkommt? Hier steht, dass er bei manchen Szenen in Tränen ausbrach und echt nicht mehr konnte.“ Er: „Der Mann hat den Wahnsinn im Führerbunker überstanden, die Launen Hitlers, die Bombennächte, die vielen Toten, ich denke schon, dass er durchkommt. Aber eines muss klar sein: Die Geschichte der RAF muss neu geschrieben werden, die Opferzahlen wachsen weiter, Vinzenz Kiefer, Martina Gedeck: Die besten unserer Schauspieler wurden in einem aussichtslosen Kampf gnadenlos verheizt, Dirk Kurbjuweit schreibt im ‚Spiegel‘, dass sie traumatisiert vom Set heimgekehrt sind.“
Wie recht dieser Mann hat, der auf Wunsch nicht namentlich genannt wird (die beiden werden übrigens gleich Sex haben, den ersten seit Jahren, die Angst und die Frustration eines entfremdeten Lebens werden sie dabei hinausschreien und ein Kind zeugen, einen kernigen kleinen Jungen, Anfang eines Umsturzes in der Alterspyramide, dem sie aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht verstehen, die Vornamen Frank-Matthias geben werden), der RAF-Film droht, in unverheilten Wunden zu stochern und sie weiter aufzureißen. Doch die Krise ist auch Chance, wo Schmerz ist, wächst Gemeinschaft. Mit Bangen, aber auch Hoffnung sehe ich deshalb der Kinovorführung entgegen: Spontan werden sich hinterher Selbsthilfegruppen unter den Zuschauern bilden, die sich Trost geben, Geborgenheit. Ich werde Zeuge von Szenen sein, wie ich sie zuletzt nach Vinterbergs Inzest-Drama „Das Fest“ (1998) beobachten konnte.
Ein verlorener Krieg von „sechs gegen 60 Millionen“ (Heinrich Böll), ein Trauma, eine nationale Erhebung, die Koordinaten stimmen. Dass auch mich diese deutsche Partymischung mobilisieren kann, durfte ich einen Tag zuvor schon erleben, bei einem Telefongespräch mit J. K. Zwischen uns herrscht eigentlich Funkstille, doch auf einmal sprudelte es aus uns heraus: Wer den Film schon gesehen hat, die Pressekönige, die zum Vortermin durften, der arme Stadtmagazin-Chefredakteur, der sein Editorial auf der Basis des Trailers schreiben musste, den er wahrscheinlich auf YouTube gesehen hat. Machtunterschiede, Asymmetrie, Ungerechtigkeit, verletzter Stolz und daraus resultierende Angriffslust, was gibt es Besseres für künstlerische Produktion, gesellschaftliche Dynamik? (So schrie der Rainald Goetz in mir.)
Der Witz (sicher schon tausendfach gemacht): „Der Untergang, Teil zwei“ sollte man den Film nennen. Die Frage: Nachdem in Oliver Hirschbiegels Bunker der letzte Führerbefehl, er möge mit Benzin übergossen und verbrannt werden, „damit die Russen meine Leiche nicht zur Schau stellen können“, dahingehend interpretiert und befolgt worden war, dass Hitler nicht beim Selbstmord gezeigt wurde (Wim Wenders’ Rezension in der „Zeit“) – wird es diesmal anders sein? Werden wir Baader in seiner Zelle beim Knall in Nahaufnahme sehen?
J. K. und ich jedenfalls haben wieder einen Kanal zueinander gefunden, das Projekt, das sich hinter unseren Rücken erhebt, wischt die persönlichen und weltanschaulichen Differenzen hinfort. Dass die große Heilung aus einem Bündnis von Filmschaffenden und Feuilleton hervorgeht – wer hätte das gedacht?
Nachtrag: Obiger Text wurde im Affekt geschrieben – nach einer Überdosis Lektüre der „Baader Meinhof Komplex“-Berichterstattung und einigen Flashbacks der Feuilleton-Debatte über den „Untergang“. Den Film selbst zu sehen war ein eher fragwürdiges Erlebnis. Zum Glück war eine französische Freundin im Kino mit dabei, ihr hinterher die historischen Zusammenhänge zu erkären und die Dialoge zu übersetzen hat das Schweigen verhindert, das ansonsten Folge des Kinobesuchs gewesen wäre.