Beklemmung verbreitete sich unter Journalistenkollegen, als gestern die Meldung vom drohenden Staatsbankrott Islands die Runde machte. Einer sprach es offen aus: „Wer weiß, ob wir hier in ein paar Monaten überhaupt noch arbeiten?“ Die Finanzkrise macht vor Ländergrenzen nicht halt, dafür sorgt schon die Psychologie. In Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ ist nachzulesen, dass man in den isländischen Vulkan Snæfellsjökull steigen kann, um am Ende aus einem Krater weit davon entfernt, auf der Vulkaninsel Stromboli im Mittelmeer, wieder ausgespuckt zu werden – unterirdische Höhlensysteme verbinden die tektonischen Unruheherde miteinander.
Dass ein Milliardenkredit aus Moskau bereits verhandelt wird, erwies sich nach einen Blick auf die neuesten Nachrichten als Fehlinformation. Dafür kam Montag für ein angeschlagenes westliches Unternehmen Hilfe aus dem Osten: Das russische Luxusunternehmen Mercury Group hat das große Auktionshaus Phillips de Pury gekauft, was zunächst als „strategische Partnerschaft“ ausgegeben wurde, schon bald aber als „Rettung in letzter Sekunde“ (artnet) für das anscheinend verschuldete Traditionshaus galt.
Bereits bei dieser Meldung verfinsterten sich die Gesichter um mich herum. Dieser Umschlag! War doch Damien Hirst noch Mitte September beim Konkurrenzunternehmen Sotheby’s Werke für 140 Millionen Euro losgeworden, zufälligerweise an den Tagen, als die Katastrophenmeldungen von der Lehman-Brothers-Pleite herausgingen. „Der Finanzmarkt bricht ein, der Kunstmarkt feiert“, dichtete „Spiegel Online“ damals. Und jetzt drohen auch dort und in den angeschlossenen Medien: Kaufverzicht, vorsichtige Anzeigenkunden, sinkende Werbeeinahmen, wackelnde Jobs, die harte Tour nach dem Dotcom-Crash, an die sich mancher Journalist noch gut erinnern kann.
Eines der Hirst-Werke, die bei der Auktion zu Verkauf standen, war „The Golden Calf“, angelehnt an die „Bibel“-Erzählung vom Götzenbild, um das die Israeliten tanzten, während Moses die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten entgegennahm – bewährtes Sinnbild für gottlose Gier nach Reichtum. „Subversiv“, beurteilten manche Kommentatoren die Namensgebung durch den Künstler, weil er angeblich dadurch frech die Marktkräfte bloßgestellt hatte, denen er sein Vermögen verdankt.
Vielleicht hatte Hirst mit der Referenz auf das Goldene Kalb der Hebräer wirklich den richtigen Riecher, allerdings anders als vermutlich beabsichtigt. Das Kunstwerk, ein in Formaldehyd eingelegter Bulle, dessen Hufe und Hörner durch Nachbildungen aus Gold ersetzt wurden, lässt an das Tauschangebot Fleisch gegen Geld von Shylock denken, einer Figur aus „Der Kaufmann von Venedig“, mit der Shakespeare den „Wucherjuden“, Inbegriff des christlichen Antijudaismus, auf die Bühne brachte.
Die amerikanische Organisatiom Anti-Defamation League berichtete vor Kurzem von einer Welle judenfeindlicher Statements in Onlineforen zur Krise auf den Finanzmärkten.
Hundreds of anti-Semitic posts regarding Lehman Brothers and other institutions affected by the subprime mortgage crisis have been submitted to discussion boards dealing with finance, with many more arriving by the minute. The messages rail against Jews in general, with some charging that Jews control the government and finance as part of a „Jew world order“ and therefore are to blame for the economic turmoil.
Das bringt ebenfalls Erinnerungen hoch: an die Tage nach dem 11. September 2001, als auch im Westen sogenannte Querdenker in Scharen ins Lager des Dschihad gewechselt waren. Nichts Neues: In wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten gibt es schließlich immer eine gegenläufige Hochkonjunktur zu vermelden – einen Boom antisemitischer Verschwörungstheorien. Da wird dann die „Israelkritik“ am „Rambo-Juden“ (Daniel Jonah Goldhagen) rasch ergänzt durch Zerrbilder aus der christlichen Tradition. Und durch das Phantasma von der „jüdischen Weltverschwörung“, die als konkrete, mit böswilligen Personen besetzte Steuerungszentrale hinter dem abstrakten System des Kapitalismus imaginiert wird.
Die größte und effektivste Propagandaabteilung für diese Wahnidee hatten bekanntlich die Nationalsozialisten. Dass auch in der Gegenüberstellung von spekulativem und produktivem Kapital des vulgären Antikapitalismus nationalistisch gesinnter Linker die vom „raffenden“ und „schaffenden“ Kapital aus dem Parteiprogramm der NSDAP wiederkehrt, sollte sich aber seit der „Heuschreckendebatte“ 2005 herumgesprochen haben.
Eine Erkenntnis, die bei vielen Zeitgenossen noch aussteht: Angesichts des weiterhin grassierenden Antisemitismus bleibt Israel als Zufluchtsstätte für bedrohte und verfolgte Juden gar nichts anderes übrig, als seine Politik der Stärke fortzusetzen. Wenn schon Zerrbildern nicht auszuweichen ist, dann ist Rambo dem Shylock vorzuziehen.