Foto: Thomas Hawk (cc)
„Lesen ist Fernsehen im Kopf“, lautete ein dummer Werbeslogan des Buchhandels, der vor etlichen Jahren Stimmung für „das gute Buch“ machen sollte. Dumm, weil er andeutet, dass Fernsehen umgekehrt nicht „im Kopf“ stattfindet, sondern – im Magen? Zwischen den großen Zehen? Fressen, F_cken*, Fernsehen, das sind bekanntlich die drei Fs, mit denen das deutsche Privatfernsehen seit seinen Anfangstagen, aus denen der Slogan datiert, Bildungsbürgern Angst um das kulturelle Erbe des Abendlandes macht.
Die Verortung des Lesens im Kopf, in einer immateriellen Sphäre des Geistes, führt auch schon deswegen in die Irre, weil sie vergessen macht, dass, wer viel liest und vielleicht auch noch schreibt, unglaubliche Mengen von Material anhäuft, Bücher, Magazine, Manuskripte. Spätestens beim Umzug in eine andere Wohnung zeigt sich, dass das, was in der europäischen Geistesgeschichte als bloßes Transportmittel für federleichte Gedanken gilt, tatsächlich eine behäbige Masse von beträchtlichem Gewicht darstellt.
Der Hinweis „Please don’t print this unless you really need to!“ ist mittlerweile eine gängige E-Mail-Signatur. Energie sparen, Papier sparen – die Umwelt freut sich. Klar, man kann Mails auf dem Bildschirm lesen und, wenn nötig, auf der Festplatte speichern. Ähnliches gilt für Artikel, die man im Internet gefunden hat. Leider hat Computer-Hardware die unangenehme Eigenschaft, gelegentlich den Geist aufzugeben oder sonst wie abhandenzukommen. Schade, wenn man seine Daten dann nicht extern gesichert hat. Vor einigen Jahren habe ich deshalb damit begonnen, Sicherheitskopien auf CD-ROMs anzulegen. Doch auch diese werden mit der Zeit hinfällig, der Jahrgang 2004 zeigt bereits eine erschreckende Ausfallquote. Deswegen steht demnächst der Kauf einer externen Festplatte an (die ebenfalls nicht ewig halten wird).
Aber muss man überhaupt Daten für sich speichern? Ist es nicht altmodisch oder gar zwanghaft, Informationen besitzen zu wollen? Ebenso gut kann man Links als Favoriten im Browser bookmarken. Der Imperativ des Web 2.0 heißt überdies „Share!“. Anstatt ein privates Archiv anzulegen, sei es ein Zeichen der Fortschrittlichkeit, Interessantes im freien Fluss der Datenströme durch Social Bookmarks zu adressieren und für andere nutzbar zu machen.
Meine Erfahrung ist allerdings, dass etwa die YouTube-Videos, die mir auffallen, recht bald gelöscht werden: „This video has been removed due to terms of use violation“, heißt es dann. Offenbar kollidieren meine Interessen mit dem Urheberrecht und den Sauberkeitsvorstellungen von selbst erklärten Moralhütern, die auf Videoportalen für familienfreundliche Wohlfühlatmosphäre sorgen wollen.
Auch Blogs und Webseiten verschwinden auf Nimmerwiedersehen, noch bevor sie von der Wayback Machine archiviert werden konnten. Außerdem setzen manche Website-Betreiber das Meta-Tag „noarchive“ ein, das das Speichern von Seiten im Google-Cache verhindert.
Dieser Text hat einen konkreten Anlass: Moistworks ist vom Netz. Mindestens seit vorigen Sonntag kommt beim Aufrufen der Webseite der Hinweis des Hosts „This site has been suspended“. Das ist wirklich ein großer Verlust, das MP3-Blog, von einer Gruppe amerikanischer Autoren mit Stories und Musik bestückt, gehörte zum Besten, was ich bisher im Web 2.0 entdecken konnte. Gerade wollte ich noch Worte des Lobes schreiben, insbesondere der auf diesem Blog veröffentlichte Nachruf auf den Schriftsteller David Foster Wallace stach aus dem unsäglichen Quatsch heraus, den man andernorts lesen musste. Zu spät: Den Moistworks-Beitrag habe ich nicht gespeichert. Meine Lesezeichen, die Links, sie führen jetzt ins Nichts.