Das Berliner Secondhand-Inferno: Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die 70er-Jahre zurück auf die Erde.
Das schmerzt in den Augen: Kaum sinken die Temperaturen, kramen die Berliner ihre 70er-Jahre-Skijacken hervor. Gestreift in hässlichen Filzstiftfarben, werden sie gern getragen in Kombination mit grob gestrickten Kindermützen und -schals. Und in der Vorstellung beginnen die finsteren Novemberstraßen zu wackeln und auszubleichen wie die Bilder eines Super-8-Films, während schwefliger Nebel in die Retro-Hölle kriecht.
Aber vielleicht sind es gar nicht mehr die Berliner, die diese Horrorjacken austragen, die anderswo gerade mal für den Ölwechsel taugen, sondern die Scharen von Subkultur-Touristen, die aus ganz Europa in die Stadt strömen. Vor Antritt der Reise werden sie durch irgendwelche Publikationen (ich tippe auf „Lonely Planet“) darüber aufgeklärt, was der junge, hippe Slacker in Prenzlauer Berg angeblich anzieht.
Mit diesem Style statten sie sich aus, sobald sie ihr Backpacker-Hostel für die erste Shopping-Tour durch Secondhandläden verlassen haben. Zum Beispiel auf dem Mauerpark-Flohmarkt oder in der Kastanienallee, die – mit Mut zum Risiko – selbst von Anwohnern als „Castingallee“ tituliert wird, seit in einem „Spiegel“-Artikel vor ein paar Jahren zu lesen war, dass alle dies täten.
Die Modesünde als „copycat crime“ sorgt dafür, dass jede Geschmacksentgleisung in der Frontstadt über Jahre hinweg fortgesetzt wird, selbst nachdem die Berliner ihrer überdrüssig wurden. Was bekanntlich mehrere Generationen dauern kann.
Stoffabfälle lauern auf Modeopfer
Als Teenager trug ich ebenfalls 70er-Jahre-Kleidung auf, gefärbte Hemden mit seltsamen Kragen, um dann nach meinem Umzug in Berlin festzustellen, dass eben diese Stoffabfälle immer noch in unerschöpflichem Vorrat in fabrikhallengroßen Verkaufsräumen zu finden sind. Und dass dort immer noch entweder Songs von den Ramones oder Serge Gainsbourg im Hintergrund laufen.
Heute nennt sich das Vintage, was vielleicht den Geruch von Mottenkugeln übertüncht. Womöglich wurden auch meine Hemden, nachdem ich sie losgeworden war, wieder aus dem Müll gezogen – und erneut in den Retro-Stoffwechsel eingeschleust. Im Secondhandshop um die Ecke lauern sie auf neue Modeopfer.
Gelegentlich stelle ich mir vor, dass an geheimen Hafenanlagen in gigantischen Containerschiffen unter den Fahnen längst von der Weltkarte verschwundener Staaten Tausende Bruttoregistertonnen von gefärbten 70er-Jahre-Hemden und abscheulichen Skijacken eingelagert sind – für all die Retro-Wellen, die noch kommen werden. Und vielleicht werden diese Schiffe und ihre Ladung dasjenige sein, was Klimawandel, Weltuntergang und Strahlentod übersteht. Schlechter Geschmack ist nicht totzukriegen.
Foto: Thomas Hawk: „So This is America“ (Lizenz by-nc), von mir bearbeitet.