Die Toten sind tot, sie können sich nicht wehren. Tote Schriftsteller vor allem werden Opfer jener besonderen Leichenfledderei, die man Interpretation nennt – ein Verfahren, um mit besonderer Deutlichkeit zu sagen, was der Autor eigentlich sagen wollte, wenn er sich zu Lebzeiten halt klarer ausgedrückt hätte (oder wenn er sich vom Psychoanalytiker sein eigenes Werk Symptom um Symptom hätte erklären lassen).
Bei den Videos auf dem YouTube-Kanal Poetryanimations handelt es sich um eine andere Form von Leichenschändung an Dichtern. Von Baudelaire über Rimbaud bis zu Walt Whitman sind viele Ikonen abendländischer Literaturgeschichte versammelt, computeranimiert zum Sprechen gebracht. (Nachtrag: Das Video wurde gelöscht, der Kanal wegen Urheberrechtsverletzungen eingestellt. YouTube meldet: „Zu den Beschwerdeführern gehören: Walt Whitman House/Walt Whitman Association.“)
Diese Reanimation der Dichter als digitale Sprechpuppen hat etwas Obszönes. Außerdem fühle ich mich dabei ertappt, dass ich mir dort Gedichte anhöre, für die ich in schriftlicher Form keine Geduld aufbringen würde.
Den amerikanischen Poeten Whitman (1819-1892) als Video-Beispiel herauszugreifen, der im Gedicht „I think I could turn and live with animals“ (aus dem Zyklus „Leaves of Grass“, 1855) doch die Vorstellung hegt, zu einem einfachen Leben in der Natur unter Tieren zurückzukehren, ist natürlich besonders fragwürdig.
Andererseits:
I think I could turn and live with animals …
They do not sweat and whine about their condition,
They do not lie awake in the dark and weep for their sins,
They do not make me sick discussing their duty to God.
Amoralisch und ohne Pflicht zur Rechenschaft zu sein ist auch für Blogautoren eine Versuchung.
Nachtrag, 18. Juli 2009: Ein Name für das Phänomen, dass nichts und niemand mehr stirbt, lautet bekanntlich Kapitalismus. Und so bin ich eben auf einen neuen Levi’s-Werbespot gestoßen, für den Walt Whitman mit Zeilen aus seinem Gedicht „America“ posthum zu Diensten sein musste.
Womöglich ist Whitman selbst der Sprecher: Es handelt sich um eine Wiedergabe einer Wachszylinder-Aufzeichnung, die dem Poeten zugeschrieben wird (vgl. „America“-Soundfile im Walt Whitman Archive). Thomas Alva Edison hat diese Technik vier Jahre vor dem Tod Whitmans erfunden.
Whitman embodies the spirit that the Levi’s brand hopes to evoke – freedom, originality, transcendence; the American Spirit untethered by uniformity and pragmatism – but still safely sequestered within a mainstream paradigm. And Levi’s decree to „Go Forth“ is simple, direct, and undeniably moving – an apt call to action for today’s „new pioneers“.
Das schreibt Christine Huang in der Huffington Post – und hält die Jeans-Werbekampagne für misslungen.