Die Ärzte ohne Grenzen gehen mit einem neuen Werbespot sehr weit, um Hilfsbereitschaft zu wecken: Gräuel in Afrika sind darin wie in einem Horrorfilm in Szene gesetzt.
Wir sehen: ein mit Einschusslöchern übersätes, ärmliches Gebäude in einer Wüstengegend, dahinter steigt eine Rauchsäule in den Himmel. Eine einfache Zeichnung an der Wand, vermutlich das Werk eines Kindes, zeigt ein Flugzeug über brennenden Häusern.
Wir hören: zunächst die Stimme einer Frau aus dem Off, sie klagt in einer fremden Sprache. Dann stoßweise Stöhnen, das rhythmisch in einen Laut der Qual übergeht. Schüsse klingen in der Ferne.
Währenddessen werden in dem Video (YouTube-Direktlink) nacheinander fünf Sätze eingeblendet:
- One of our doctors is treating a 5-year-old boy
- Militia have just raped his two sisters
- Then clubbed his parents to death
- We can’t operate without your help
- Visit msf.org.uk
Der Film ist der Werbespot „Boy“, den die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières (deutsche Sektion: Ärzte ohne Grenzen) in britischen Kinos geschaltet hat. Manch ein Betrachter fragt sich, ob hier die Grenzen des Erträglichen überschritten wurden. Und ob der Zweck wirklich jedes Mittel rechtfertigt.
Wo bleiben die Fakten?
Der Kinospot macht erst mal ratlos: Was geht hier vor? Wo genau wurden die Bilder aufgenommen? Wann ist das passiert? Wer ist der Junge, der von den Ärzten operiert wird, wer die Miliz, die seine Eltern ermordet hat? Wurden die Geräusche an diesem Ort aufgezeichnet, oder wurden Tonspur und Bild erst beim Schnitt zusammengesetzt?
Das sind sind Fragen, die zum Beispiel ein Fernsehzuschauer an einen Beitrag in den Nachrichten stellt und die in diesem idealerweise beantwortet werden. Doch die Ärzte ohne Grenzen wollen nicht informieren. Sie wollen zum Spenden auffordern.
Die Ärzte ohne Grenzen äußern sich auf ihrer Website folgendermaßen zur Auslassung von Fakten und des Kontexts im Werbespot:
We have deliberately left the child nameless and not identified the country in order to protect his identity and to encourage viewers to realise that violence of this sort occurs beyond just the borders of a single country.
Die Aufnahmen des MSF-Spots wurden in Afrika gedreht, so viel ist herauszufinden.
Afrika, daran erinnern uns die Medien, ist: Flüchtlingskinder mit vom Hunger aufgeblähten Bäuchen, die flehend in die Kamera des westlichen Beobachters starren. Andere Kinder mit AK-47 im Anschlag, die von Unrechtsregimen und von Rebellenbewegungen, deren Namen sich kaum jemand merken kann, unter Drogen gesetzt und zu Killern trainiert werden.
Überall: Krieg, Flüchtlingsströme, Aids, Hunger, Rückständigkeit. Und wenig sonst (außer ein bisschen Folklore vielleicht). Ein ganzer Kontinent nackt, hilflos, auf der Intensivstation (solange das Geld fließt, das die Geräte am Laufen hält).
Es ist verständlich, dass manche Afrikaner die Gleichsetzung ihres Erdteils mit Armut und die Vernachlässigung guter Nachrichten in westlichen Medien wenig hilfreich finden. Der kenianische Journalist und Schriftsteller Kenneth Binyavanga hat die Ballung von Klischees 2006 in dem Text „How to Write about Africa“ für das Literaturmagazin „Granta“ zusammengefasst. Er ist zur Lektüre empfohlen.
Doch Hilfe für Notleidende ist ein hart umkämpfter und milliardenschwerer weltweiter Markt. Unzählige Organisationen und Vereine konkurrieren untereinander. Zum Ringen um das Spendengeld gehören – natürlich – Pressearbeit und Public Relations. Und die PR-Abteilungen arbeiten an neuen Darstellungsstrategien für die Repräsentation menschlichen Leids.
Erzeugen Horrorbilder aus Afrika Empathie?
Die bekannten Bilder des Elends stumpfen allerdings ab, das wissen auch die Ärzte ohne Grenzen. Die neue Werbekampagne, produziert von der britischen Werbeagentur McCann Erickson, sei:
our attempt to make a deliberate move away from some traditional charity advertising which can tend to focus on images of starving children
Das ist den Machern gelungen: Das namenlose und ortlose Grauen im MSF-Werbespot ist der Fantasie des Zuschauers überlassen, dieser muss die Szene in seiner Vorstellung realisieren. Der Film wirkt deswegen so verstörend. Und so manipulativ. Es ist eine Strategie des klassischen Horrorfilms.
Lässt sich so Empathie beim Zuschauer erzeugen? Weckt es seine Spendenbereitschaft? Oder geht diese Manipulation der Gefühle zu weit – weil sie ihm nur seine Hilflosigkeit angesichts der Gewalt und des Elends deutlicher macht?
Die NGO stellt sich der Kritik
Gut an dieser Kampagne ist allerdings, dass die Hilfsorganisation zu Reaktionen auf den Kinospot auffordert. Auch im Web 2.0: Pete Masters, ein Mitarbeiter der Ärzte ohne Grenzen, stellt sich etwa in dem Blog Duckrabbit einer Online-Debatte. Wer mag, kann dort seine Kritik äußern, Englischkenntnisse vorausgesetzt.
(via Prison Photography)
Nachtrag, 8. November 2009: In dem Fotoblog Black Star Rising fordert Paul Melcher: „Please, no more pictures of dying Africans“. Nur mehr Elendsbilder würde man aus Afrika zu sehen bekommen. Ein Grund dafür sei, dass Fotojournalismus auf dem Kontinent zunehmend von NGOs abhänge und nicht mehr von der Presse.