Die Reeperbahn Anfang der 60er-Jahre, in der Zeit, als die Beatles nach Hamburg kamen, um an der Großen Freiheit ihre Weltkarriere zu starten. Wenn diese seltsame englischsprachige Reportage (YouTube, 7:16 min) tatsächlich eine repräsentative Auswahl der Nachtschwärmer zeigt, die sich damals im Hamburger Rotlichtviertel herumgetrieben haben, kann man sich vorstellen, dass die Konzerte der Jungs aus Liverpool zu lustigen Eskapaden führten.
Bitterböse ist der Einstieg des Films: Zur subjektiven Kamera, die sich schnell durch die Neonkulisse der Reeperbahn bewegt, hört man marschierende Stiefel aus dem Off. Im Nachtleben tränken sich die Deutschen die Erinnerung an ihre Nazivergangenheit weg, kommentiert der Sprecher. Das ist, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, sicher keine falsche Unterstellung. Trotzdem sieht man auch Gesichter nicht deutscher Herkunft unter den Vergnügungssüchtigen.
Konfrontiert mit dem ehemaligen Feind, ist beim Kameramann auf alle Fälle die Hemmschwelle gefallen, er hält gnandenlos drauf – auf einsame Trinker und knutschende Pärchen, streitlustige Macker und gestrandete Exzentriker in St. Pauli. Manche stellen sich dem Duell mit dem Objektiv. Andere lassen sich kleine Kunststücke einfallen, die sie darbieten, soweit sie noch aufrecht stehen können. Klar ist: Für diese Leute war es eine ungewohnte Erfahrung, gefilmt zu werden.
Schaulust ohne Gnade
Viele Jahre nachdem ich auf dieses YouTube-Video gestoßen bin, habe ich das Rätsel seiner Herkunft gelöst: Die vermeintliche Reportage ist ein Ausschnitt aus der Pseudodokumentation „Mondo Cane“ (1962) der italienischen Regisseure Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi und Paolo Cavara. Der Exploitation-Film, der im Kino erfolgreich war, begründete das „Mondo“-Genre.
Grenzüberschreitung gehört darin zum Geschäftsmodell. Der ausbeuterische Kamerablick von „Mondo Cane“ verstört Kritiker des Films: „Die Bilder von den Trinkern auf der Reeperbahn zählen wohl zum Unbarmherzigsten, dem ich bislang begegnet bin“, schreibt ein Rezensent der Filmzentrale und vergleicht die Verachtung, die sich darin ausdrückt, mit der von Nazipropaganda.
Wie die Kritik im Erscheinungsjahr von „Mondo Cane“ reagierte, lässt sich in einem „Spiegel“-Artikel von 1962 nachlesen.