In den sozialen Netzwerken des Web 2.0 könne man den Untergang des Abendlandes verfolgen. Heißt es von Kulturkritikern. Auf Twitter etwa werde der Journalismus, der doch unseren Staat zu nähren hat, zu Finger-Food verarbeitet. Die Menschlichkeit leide ebenfalls: Wird er Zeuge eines Unfalls, denkt der Blogger eher an eine bequeme Sitzgelegenheit mit guter Sicht und ausreichend Popcorn als daran, Hilfe zu leisten. Schlimm stehe es auch um den deutschen Mann. War der in Opas Jugendtagen noch berüchtigt berühmt dafür, knapp und sachlich im Ausdruck zu sein („Panzergruppe Todmöller, angrrrrreifen!“), hat er sich mittlerweile auf Facebook in eine Klatschtante verwandelt. Mit Elvis fing die Verwestlichung an, durchs Internet ist jetzt die ganze Nation verweichlicht.
Besonders bitter sei der Verfall des intellektuellen Potenzials: Noch vor 20 Jahren konnten bekanntlich breite Bevölkerungsschichten prima über Nietzsches „Genealogie der Moral“ und Heidegger debattieren. Und einig waren sie sich darin, dass es den Geistesaristokraten auszeichnet, wenn er, im Unterschied zum „Herdenmenschen“, nicht willens oder in der Lage ist, seinen Videorekorder zu programmieren. Zu Recht lobten sie sich bei jeder Gelegenheit selbst dafür.
Heute kriechen dieselben Leute mit allerlei Kameratechnik ausgestattet ihren Haustieren hinterher, auf allen Vieren. Dabei geben sie Grunzgeräusche von sich, um diese zu putzigen Reaktionen zu reizen – die dann ruck, zuck im Netz landen.
YouTube zerstöre überhaupt den Zusammenhalt in der Familie: Denn als sie noch keine andere Wahl hatten, bildeten Papa, Mama und der Nachwuchs allabendlich vor dem Fernseher eine Schutzgemeinschaft. Als starkes Team standen sie Schulter an Schulter die Unterhaltung durch. Heute dagegen weinen sie vor ihren Bildschirmen, isoliert, jeder für sich. Manche Video-Amateure besitzen sogar die Frechheit, sinnentstellend aus Gottschalks „Wetten, dass..?“ zu zitieren. Was kommt dort als Nächstes? Etwa Witze über die Weltläufigkeit unseres Außenministers?
Verwahrlosung, Rohheit, Verweichlichung, Seichtheit, Infantilität überall. Der Albtraum 2.0.
Katzencontent aus den 20er-Jahren
Doch irgendetwas an dieser offiziellen Version des Zivilisationsverfalls, der uns in der Gegenwart wegen des Internets drohe, schien mir nicht zu stimmen. Und da es niemand gab, mit dem ich über meine Zweifel hätte reden können – mein soziales Umfeld rekrutiert sich großteils aus Lesern des „FAZ“-Feuilletons und ist nicht besonders internetaffin -, machte ich mich allein auf die Suche nach Gegenbeweisen.
Ich hinterfragte, dachte quer, hakte nach, all das tat ich schonungslos. Und dabei entdeckte ich dann diese Fotografie. Gerade in ihrer Trivialität ist sie eine Offenbarung.
Das Motiv und die Machart wirken vertraut: Ein Köter, von Kennern auch als Hund bezeichnet, wird von einer weißen, amorphen Masse, laut Bildbeschreibung eine Katze, zu eigenartigem Verhalten veranlasst. Der Clou: Der unscharfe Schnappschuss ist 1920 entstanden, ich wiederhole: im Jahr neunzehnhundertzwanzig. Und das stolze Herrchen oder Frauchen hat das Foto doch tatsächlich auf einer Brosche aufziehen lassen, die dann mittels Sicherheitsnadel als Mode-Accessoire an der Kleidung getragen werden konnte – damit auch der letzte Mitmensch in der Öffentlichkeit von diesem im Grunde bedeutungslosen privaten Katzencontent Kenntnis bekam.
Das Indiz ist eindeutig: Bevor wir da waren, in den 20er-Jahren, war das Abendland längst hopsgegangen.
Foto: George Eastman House (Flickr Commons)