Das Internet vergisst nichts, sagt man. Diese Warnung vor zu freizügiger Selbstdarstellung könnte man auch anders verstehen: Online wird alles, was die Archive der Alltags- und der Popkultur hergeben, recycelt. Restlos. In der Print-Presse sieht es nicht viel anders aus: Einfallsloser Rückblick-Journalismus beherrscht dieser Tage das Feuilleton. Die Allgegenwart der Vergangenheit hat zumindest im Internet gute Seiten: Ich selbst freue mich sehr darüber, welche Raritäten etwa Sammler von 60er-Jahre-Soul ausgraben und ins Netz stellen. Oft begleitet von Texten mit Informationen über die Musiker, die man sonst kaum findet (etwa auf dem schönen Musikblog Funky16Corners).
Die Retro-Kultur von Digital Natives nimmt aber manchmal auch absurde Züge an. Allein mit den Frauen, die weltweit für ihr MySpace-Profil mit Netzstrumpfhose und Prinz-Eisenherz-Pony als Bettie Page posieren, könnte man schätzungsweise eine Großstadt füllen (was immerhin ein lustiger Anblick wäre). Und die Selbststilisierung zum Factory-Model geht via Copy and Paste in den sozialen Netzwerke schneller, als dort in Pop-Art-Tagen ein Film abgedreht wurde. Andy Warhol würde heute vermutlich das Netz mit Urheberrechtsklagen überziehen.
Von den 20er- über die 50er- bis zu den 80er-Jahren: Für nahezu jedes Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts gibt es unzählige Facebook-Gruppen, Internetforen, Fan-Websites, Blog-Netzwerke. Leider wird dort häufig das, was an Vergangenem auch heute noch relevant und interessant sein könnte, auf eine bloße Lifestyle-Uniform zurechtgeschneidert.
Popkultur-Recycling statt Kunst der Aneignung
Wie sollte es auch anders sein? Der Fan ist schließlich Fan, weil er das, was ihn fasziniert, nicht reflektiert. Das kann man ihm meist durchgehen lassen – solange er anderen seinen Style nicht so aufdrängt, wie es bei der unerträglichen 20er-Jahre-Resteverwertung in Berlin teilweise der Fall ist. Und eine auf Soziologisch oder im Jargon der Medienpädagogik verfasste Kritik am Fantum, die die Anfeindung der Massenkultur durch die Theoretiker der Frankfurter Schule als Light-Version zitiert, darf man heute selbst schon zu den Retro-Phänomenen zählen.
Das Nachdenken über Popkultur, ihre Codes und Erregungsstrategien muss außerdem nicht allein sprachlich, mit Begriffen geschehen. Das, was an Film, Musik und Mode begeistert oder gelegentlich abstößt, kann auch durch neu arrangierte Bilder, Töne und Schnitte dargestellt und sinnlich erfahrbar gemacht werden. Viele zeitgenössische Künstler versuchen genau das durch ihre Aneignung von vorgefundenem Material zu erreichen. Viele, nicht alle. Denn manche, die sich das von Lifestyle-Publikationen in Print und online großzügig verteilte Label „Künstler“ gern gefallen lassen, verdoppeln nur die Mechanismen von Pop- und Retro-Recycling. Und zeigen dabei allenfalls handwerkliches Geschick.
Gigi Gaston – „Je suis perdue“
Ein aktuelles Beispiel für Copycat-Kunst, die durch diese Etikettierung aufgewertet und online vermarktet werden soll, habe ich auf dem Blog WFMU entdeckt: Der amerikanische Designer Josh Gosfield hat sich als Künstler versucht und für die Ausstellung „The Black Flower“ in der New Yorker Galerie Steven Kasher ein fiktionales It-Girl der 60er-Jahre geschaffen: den französischen Popstar Gigi Gaston. Eine tragische Lebensgeschichte mit Aufstieg, Skandalen und Absturz inklusive.
Das Musikvideo zu ihrem Song „Se suis perdue“, angeblich vom Nouvelle-Vague-Regisseur Jean-Luc Godard gefilmt, ist nett, aber natürlich ein Fake. In der Ausstellung läuft es auf einem altertümlichen Fernseher. Unter den Exponate findet sich etwa ein „Harper’s Bazaar“-Cover mit einem Porträt der Schönen, im Stil des Editorial Design der 60er gehalten – Photoshop macht’s möglich. Auch mit erfundenen Zitaten von damaligen Promis aus Boheme und Pop wie Norman Mailer, Jean Genet, John Lennon oder Serge Gainsbourg wurde die erfundene Ikone ins Zeitkolorit gekleidet. Auf YouTube kann man sogar einen Trailer für ein vermeintliches Biopic anschauen.
Der Facebook– und vor allem der Twitter-Account, die für Gigi Gaston eingerichtet wurden, erleben allerdings nicht gerade einen Massenansturm – was hoffentlich ein Indiz dafür ist, dass trotz der Kultur der Wiederverwertung im Web 2.0 die Reichweite der darauf zielenden viralen Werbung ihre Grenzen hat. Die Retro-Fans bauen sich sowieso ihre eigene, abgeschottete Welt. Um dorthinein und auf deren Posterwand zu gelangen, muss man sich schon mehr einfallen lassen als die Standards des Social-Media-Marketings.
Eine Bejahung der Medien-Macht?
Man fragt sich jedenfalls bei dieser Leistungsschau des Produkt- und Grafikdesigns, was der ganze Aufwand soll. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Mechanismen, die beim „Kult“ um sogenannt legendäre Gestalten wirken, ist nicht zu erkennen. Sie werden nur kopiert. Dass man die Allgemeinplätze, die die Kunstkritik gern zur Ehrenrettung solcher Darbietungen formuliert, stecken lassen sollte, meint auch Artnet-Redakteur Ben Davis. Er schreibt in einer Review der Schau:
The critical cliché closest to hand is that it „exposes the codes“ of pop culture, which won’t do — ‘60s French pop iconography is not a „code“ that particularly needs to be unmasked. And Gosfield’s exercise has a certain commercial-art flatness — it’s in love with the codes for their own sake.
Also reine Affirmation der Oberfläche, ein spaßiges Spiel mit Popzeichen, das Übliche eben, was man unter dem Stichwort postmoderne Ironie verbucht – und nichts weiter? Vielleicht doch: nämlich eine im Grunde wenig ironische Bejahung der Macht der Medien. Denn Josh Gosfield, ehemaliger Artdirektor des „New York Magazine“, führt in Form der Kunstfigur Gigi Gaston – vermutlich ungewollt – das Selbstverständnis einer Branche vor. Die Möglichkeit, einen Star aus dem Nichts zu schaffen (und nach dem Ende des Hypes dorthin zurückzuschicken), ist schließlich Geschäftsgrundlage für all die Lifestyle- und People-Magazine, die am Kiosk und im Netz nach Aufmerksamkeit schreien.