Eine Erinnerung aus der Zeit des Reaktorunglücks von Tschernobyl ist mir geblieben: Nach dem Bekanntwerden des Super-GAUs in der Sowjetunion kam mein Physiklehrer mit einem Geigerzähler in die Klasse. Vor uns Schülern maß er die erhöhte Radioaktivität des Regenwassers, das er auf dem Dach unseres Gymnasiums in Bayern gesammelt hatte. Mir wurde damals auf einen Schlag bewusst, dass ich zuvor auf der Straße durch diesen Regen gelaufen war, ungeschützt.
Bilder aus der Sperrzone
Mit den Geräuschen eines Geigerzählers beginnt auch „Lost Souls“ (Vimeo) von Polymorf. Die niederländische Gruppe hat die Sperrzone rund um das Atomkraftwerk in der heutigen Ukraine besucht, mehr als 20 Jahre danach. Es sei schwierig gewesen, in Kiew einen Tourveranstalter zu finden.
Im Video sieht man minutenlang eine Folge ruhiger Einstellungen von verlassenen Gebäuden in Prypjat, der Nachbarstadt von Tschernobyl, die nach der Katastrophe von 1986 evakuiert wurde. Dort lebten vor dem Reaktorunglück fast 50.000 Menschen.
Inszenierung der Postapokalypse
Zu den Impressionen aus der Geisterstadt gehören von den Einwohnern auf der Flucht zurückgelassene Alltagsgegenstände, darunter Überbleibsel sowjetischer Propaganda; massenhaft liegen gebliebene Fahrzeuge und Hubschrauber; Autoscooter-Wracks und Pflanzen, die den Asphalt der Straßen aufsprengen. Bilder wie diese bilden ein eigenes Genre, das im Netz sehr beliebt ist. Kritiker nennen es „Ruinenpornografie“.
Atmosphärisches Highlight: Bilder aus einem Kindergarten, in dem leere Betten stehen. Eine Gasmaske und verunstaltete Puppen stellen dort Requisiten für eine filmische Inszenierung der Postapokalypse.
Damit gleitet „Lost Souls“ weiter in Richtung visueller Klischees ab: Aufnahmen von Spielzeug wie Teddybären sind auch bei der Medien-Berichterstattung von Katastrophen, etwa Flugzeugabstürzen, ein beliebtes Mittel – um aus dem Zuschauer Emotionen herauszukitzeln. Die Puppe in „Lost Souls“ zielt auf puren Horror.
Touren in die Geisterstadt
Komplett menschenleer, wie sie im Video erscheint, ist die Gegend um das Atomkraftwerk nicht. Im Wikipedia-Artikel zur Katastrophe von Tschernobyl lässt sich etwa erfahren, dass vereinzelt Leute in umliegende Dörfer zurückgekehrt sind. Und selbst im offziell unbewohnten Prypjat, wohin Neugierige über organisierte Touren gelangen, gibt es nicht nur Geister, dort leben auch ein paar Menschen.
„Verdammt“, denkt sich da derjenige, der sich dem Gefühl hingeben wollte, ein Letzter zu sein, „dass ich nie allein sein kann, nicht mal mit meiner Weltuntergangsstimmung!“