
„Deutschland aus Berliner Sicht“ von Georg Jähnig (Lizenz: by-sa)
Wir Berliner sind der Mittelpunkt der Welt. Wir halten aus, umzingelt von Nazis und Datschen. Auch Schwaben und Rucksacktouristen können uns nichts. Und was treibt ihr so?
Die Karte von „Deutschland aus Berliner Sicht“ finde ich lustig, auch als Bewohner des „Mittelpunkts der Welt“. Berliner nehmen solche Scherze über ihre Selbstbezogenheit naturgemäß gelassen. Sie haben Nehmerqualitäten, und das nicht nur beim Länderfinanzausgleich.
Jahrzehntelang schluckte die Stadt den Überschuss an subkulturellem Potenzial aus dem übrigen Land. Und seit einigen Jahren schickt ganz Europa den Nachwuchs zum Austoben für ein verlängertes Partywochenende an die Spree. Im Bezirk Berlin-Mitte ist Baulücke mittlerweile nur ein anderes Wort für Backpacker-Hostel in spe.
Raver im Billigflieger
Dieser Ansturm hat für die Eingeborenen auch Vorteile. Der „Easyjetset“, so Tobias Rapps Name für die Raver im Billigflieger, erhält eine vielfältige Clubszene am Leben. Während die Invasoren, die eher dem „Underground“ der 70er- und 80er-Jahre auf der Spur sind, zumindest lebendigen Geschichtsunterricht in Sachen Popkultur bieten: Punk, Hardcore, Einstürzende Neubauten und so weiter.
Die Erinnerung an diese Relikte wäre längst verblasst, würde sie nicht durch T-Shirt-Motive und Haarschnitte der RucksackÂtouristen aus Italien, Spanien und sonst woher täglich aufgefrischt. Über das Band-T-Shirt passt garantiert noch eine der Retro-Skijacken aus den unerschöpflichen Secondhand-Beständen der Stadt.
Invasion der Schwaben
Nur beim Zuzug echter und vermeintlicher Schwaben kennt der Großmut der Hauptstädter bekanntlich Grenzen. Werden diese doch beschuldigt, den Kapitalismus erfunden zu haben. Das Bashing der Binnenmigranten aus dem Südwesten kommt denen aus anderen Bundesländern zugute. Sie können sich somit unter dem Radar in die Stadt schleichen und dort einnisten. Stammten doch laut „Statistischem Jahrbuch Berlin“ 2009 die meisten innerdeutschen Neuzugänge aus Brandenburg. Auf Platz zwei folgten – abgeschlagen – die Einwanderer aus Nordrhein-Westfalen (siehe: Statistik, PDF).
Der Einfall schwäbischer Horden ist also ein Mythos. Genauso wie die gefühlte Wahrheit des Babybooms im neobürgerlichen Ortsteil Prenzlauer Berg (für Alteingesessene auch eine Invasion). Dafür rücken die Datschen immer näher. Nicht wenige meiner Freunde flüchten an Wochenenden zu ihren Buden am Stadtrand oder in Brandenburg. Um dort Unkraut zu jäten. Und um Mücken zu nähren. Die Blutsauger freuen sich auf jeden Großstädter, der abgewanderte Leckerbissen ersetzt.