Keith Olbermann ist ein Multiplikator mit Meinungsmacht. Der Moderator des amerikanischen Nachrichtensenders MSNBC hat über 160.000 Follower auf Twitter. Sein Account ist kein Fake, nein, das ist der Mann aus den TV-Nachrichten. Olbermann hat es sich, wie viele Sympathisanten der Whistleblower-Website WikiLeaks und ihres Frontmanns, zum Anliegen gemacht, Julian Assange gegen die Anschuldigung der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung zu verteidigen. Und er ist leider nicht der Einzige, der bei der Wahl der Mittel hierfür nicht zimperlich ist. Die Verbreitung ungeprüfter Gerüchte gehört dazu.
Das ist Olbermanns Tweet, der vergangene Woche wohl einiges an Unfug ins Rollen brachte (ob die Bianca Jagger, die als Quelle genannt ist, die echte ist, konnte ich nicht in Erfahrung bringen).
Polit-Thriller mit dünner Story
Der Artikel von Mitte September, den Olbermann per Twitter verlinkt hat, behauptet, Anna Ardin, eine der beiden Frauen, die Assange anklagen, habe CIA-Kontakte. Liest man sich den Text durch, merkt man bald, wie weit hergeholt diese vermeintlich brisante Information ist. So steht da zum Beispiel, sie habe in einer schwedischen Anti-Castro-Publikation veröffentlicht, die zu einer Gruppe von Exil-Kubanern in Verbindung stehen soll, die von jemand geleitet wird, der verdächtigt wird, für den amerikanischen Geheimdienst zu arbeiten (Edit: Counterpunch-Artikel gelöscht, Link zur archivierten Version).
Um wie viele Ecken soll’s denn bitte sein? So sieht also ein „Beweis“ für Ardins CIA-Kontakte aus. Für viele Assange-Fans, darunter nicht nur Hardcore-Verschwörungstheoretiker, war die Dürftigkeit der Story kein Hinderungsgrund, sie über alle Kanäle, die das Internet bietet, weiterzuverbreiten.
Israel Shamir, zusammen mit einem Paul Bennett Autor dieses Textes, ist alles andere als eine glaubhafte Quelle. Der Mann, der mehrmals in der Vergangenheit seinen Namen gewechselt hat (Edit: Searchlight Magazine, der Artikel wurde gelöscht, archivierte Version), lässt sich sonst mit Vorliebe über „the dark secret of Jewish power“ aus. Wer Abstruses zum Thema „jüdische Weltverschwörung“ sucht, ist bei diesem Antisemiten an der richtigen Stelle.
Mehr zu Shamirs CIA-Gerücht und dessen viraler Ausbreitung im Netz:
- „Olbermann, Assange, and the Holocaust Denier“ von Michael C. Moynihan. Der „Reason“-Redakteur zur Rolle von Olbermann als Multiplikator der Story und zum Antisemitismus ihres Erfinders.
- „The rush to smear Assange’s rape accuser“ von Kate Harding. Die Journalistin ärgert sich in dem Beitrag auf Salon.com über die meist männlichen Assange-Fans, denen jedes Mittel recht ist, das mutmaßliche Opfer sexueller Nötigung zu diskreditieren.
Recherche ist keine Geheimwissenschaft
Was Shamir an Fantastereien so von sich gibt, muss nicht per Leak Geheimnisträgern entrissen werden oder verborgenen Kommunikationskanälen der Regierungen. Man findet die Texte, wenn man den Namen bei Google eingibt, auf dessen eigener Website. Eigentlich ganz einfach. Aber, sorry, ich vergaß: Es muss ja schnell gehen, wenn man „heiße News“ auf dem Schirm hat.
Olbermann zumindest hat sich mittlerweile öffentlich per Tweet entschuldigt.
Über ein viel gelesenes Schweizer Verschwörungs-Blog gelangte eine Version des Polit-Thrillers im Stammtisch-Remix (Zitat: „Assange ist Opfer einer CIA-Operation in Zusammenarbeit mit einer männerfeindlichen Feministin“) in den deutschen Sprachraum. Dort wurde sie munter gepostet und verlinkt. Zum Beispiel vom „Elektrischen Reporter“ (ZDF) Mario Sixtus, der die Story (Edit: gelöscht) via Twitter an seine über 23.000 Follower weiterreichte. Nachdem Kritik daran laut geworden war, löschte Sixtus den Tweet und gab an, er sei „unachtsam“ (Edit: gelöscht) gewesen.
Dem Journalisten, dessen Video-Podcast mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde, war wohl entgangen, dass die von ihm verlinkte Website für eher zweifelhafte Enthüllungen bekannt ist. Man liest dort etwa, die „Illuminaten“ benutzten Christina Aguilera, um „Gedankenkontrolle“ über ihre Fans auszuüben.
Beim zweiten Anlauf, die Story unters Volk zu bringen, ließ Sixtus Vorsicht walten: „Könnten anwesende Qualitätsjournalisten/-blogger das hier mal factchecken?“, schrieb er in einem Tweet (Edit: gelöscht) und präsentierte seinen Tausenden von Followern darin eine Kurz-Url zu einer Community-Seite des linken Polit-Blogs Firedoglake. Auf der wird wiederum Shamirs CIA-Story verbraten und verlinkt. Auch eine Methode, ein Gerücht loszuwerden, von dem man ahnt, dass es auf wackligen Beinen steht.
Falsche Freunde: Es mag sein, dass WikiLeaks als Single Person Organization vom Kult um Julian Assange profitiert hat (auch wenn die Aussteiger, die nun OpenLeaks als Alternative gründen, das wohl anders sehen). Der „Super-Hacker“ gibt dem Projekt ein Gesicht, sein Schicksal emotionalisiert eine weltweite Medien-Öffentlichkeit und mobilisiert Unterstützer. Ich denke aber, dass Symphatisanten, die sich bedenkenlos bei den Ergüssen von Antisemiten und Verschwörungstheoretikern bedienen, um Assange von Anschuldigungen reinzuwaschen, WikiLeaks keinen Gefallen tun.
Wie der Vergewaltigungsvorwurf zum internationalen Haftbefehl führte, wirft tatsächlich Fragen zur möglichen politischen Instrumentalisierung auf. Aber solche Art von Propaganda im „Infokrieg“ gefährdet die Reputation der Whistleblowing-Plattform mehr als Kommentare in der deutschen Presse, die WikiLeaks zum Inbegriff alles Verwerflichen im Internet ernennen. Verfechter der Informationsfreiheit im Netz sollten sich von diesen unerfreulichen Mitstreitern distanzieren. Und Medien-Persönlichkeiten, die online eine Vielzahl von Menschen erreichen, haben die Pflicht, sorgsam mit ihrer Meinungsmacht umzugehen.
Nachtrag: Kritik im Notizblog zur 3sat-Sondersendung „Jagd auf Wikileaks. Freies Netz oder Datenterror?“ – wie aus „Unwissenheit, Skandalsucht oder politischer Anschauung“ journalistische Recherche aufs Spiel gesetzt wird.
Nachtrag, 14. Dezember 2010: Das Verschwörungs-Karussell kann sich immer auch in die andere Richtung drehen: So sagt Assanges Anwalt Mark Stephens im Al-Jazeera-TV-Interview (YouTube), in Russland halte man den WikiLeaks-Gründer für einen CIA-Agenten (via Evgeny Morozov).
Nachtrag, 15. Dezember 2010: Mein Beitrag wurde heute vom BILDblog empfohlen. Der Traffic-Ansturm brachte daraufhin den Server meines Hosters zum Schwitzen.
Nachtrag, 19. Dezember 2010: Die Verbindungen zwischen WikiLeaks und Shamir könnten enger sein als gedacht. „Guardian“-Redakteur Andrew Brown schrieb am 17. Dezember in seinem Blog, Shamir vertrete die Whistleblower-Plattform in Russland. „Reason“-Redakteur Moynihan hatte schon Anfang vergangener Woche auf „Assange’s Extremist Employees“ hingewiesen. In diesem Artikel liest man die Mitschrift eines Interviews, das der schwedische Hörfunksender Sveriges Radio mit Kristinn Hrafnsson geführt hat. Der WikiLeaks-Sprecher gibt darin aber keine klare Auskunft über die Art der Zusammenarbeit mit Shamir. „He is associated with us“, sagt Hrafnsson.
Nachtrag, 21. August 2019: Dieser neun Jahre alte Text wird immer noch besucht. Ich habe deshalb die Links erneuert und für Artikel, die aus dem Netz verschwunden sind, im Internet Archive vorhandene Versionen gesucht. Bei Tweets war mir das nicht möglich. Hinter einer Löschung würde ich aber keine „Vertuschung“ vermuten – es ist verständlich, dass Leute den Unfug, den sie auf Twitter geschrieben haben, später ungeschehen machen wollen.
Noch zwei Anmerkungen: Bei Screenshots von Tweets wäre ich grundsätzlich vorsichtig. Sie lassen sich leicht fälschen. Und ich muss darauf hinweisen, dass die Informationen, die ich hier versammle, veraltet sein können. Ein inhaltliches Update habe ich erst mal nicht vor. Aber an Literatur zu Assange, Shamir und WikiLeaks herrscht im Netz ohnehin kein Mangel.