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Harte Zeiten in Berlin: Ein kalter Blick auf die Bar Schwarzsauer

28. Juli 2019

Das Schwarzsauer war gut gefüllt für eine Nacht am Anfang der Woche. Platz gab es nur noch an der Bar, neben einem Mann, der wie versteinert wirkte. Zwecklos, ihm zur Begrüßung zuzunicken – seinen Blick hatte er wenige Zentimeter neben seinem Glas befestigt.

Auch die anderen Männer, die die Theke umringten, waren allein hier. Die meisten trugen Anzüge. Vielleicht waren sie direkt aus dem Büro in das Lokal an der Kastanienallee gekommen. Curtis Mayfield hielt ihnen ein Ständchen. Er klagte über harte Zeiten. Und dass in der ganzen Stadt keine Liebe zu finden sei.

Doch auf die Musik aus dem CD-Player schien keiner der Solitäre zu achten. Sie waren mit sich selbst beschäftigt. Jeder in seinem Programm versunken, jeder ein Meister darin. Die Übung war ihnen anzusehen.

Der Mann, der neben dem Durchgang zum Klo rotierte, sah nicht schlecht aus in seinem Anzug. Das Hemd trug er ohne Krawatte. In abrupten Bewegungen drehte er sich auf dem Barhocker und taxierte unverhohlen jeden, der in sein Blickfeld geriet.

Wie er bei jeder Positionsveränderung den Kopf kurz nach vorne schnellen ließ, erinnerte an eine Muräne. Sein Grinsen ebenfalls. Es hatte sich in seinem Gesicht festgesetzt. Der Ausdruck schien keine Reaktion auf die Umgebung zu sein, zumindest auf nichts Bestimmtes, denn er veränderte sich nicht, wohin der Mann auch blickte.

Vielleicht hielt er Ausschau nach einem weiblichen Gegenstück, nach einer Frau im Halbdunkel, die auch so aussah, so aussehen wollte, als ob sie mit allem durch sei und zu allem bereit. Doch die gab es hier nicht.

Die wenigen anwesenden Frauen waren in Dreier- und Vierergruppen weggeschlossen. Darin bewegten sie sich frei. Eine lachte auf – zu laut für einen weiteren Anzugträger, der gegenüber der Zapfanlage saß.

Ein Zucken unterbrach kurz seinen Auftritt. Er bestand in der Koordination knapper Gesten. Wie er eine zerfledderte Tageszeitung aufschlug und faltete, wie er – ohne aufzuschauen – nach dem Getränk griff und wie er mit einem minimalen Wink das nächste bestellte, wirkte sehr angestrengt, als steckte in jeder Bewegung der ganze Mann.

Auf viel mehr schien er sich nicht konzentrieren zu können, auch nicht auf das Lesen der Zeitung. Die seit mehreren Minuten aufgeschlagene Seite enthielt neben viel Werbung nur zwei schmale Spalten mit Lokalnachrichten. Das Gesicht des Mannes wirkte jung, unverbraucht. Am Hinterkopf gingen ihm die Haare aus.

Auf ein Mal löste der Versteinerte sich und seinen Blick von der Theke. Nachdem er gegangen war, nahmen zwei neu angekommene Männer seinen Platz ein. Auf die Atmosphäre im Schwarzsauer prallten sie wie auf eine Wand. Der eine brauchte endlos, um seinen Mantel abzulegen. Der andere errötete beim Versuch, die Aufmerksamkeit des Barmannes zu gewinnen. Hoffnungslose Anfänger.

Berliner Szene

Ich habe diesen Text über die drei Solitäre heute zufällig auf meiner Festplatte gefunden. Er ist die Langfassung einer „Berliner Szene“, die ich 2004 für die „taz“ schrieb. An den Abend kann ich mich nicht mehr erinnern, und der Artikel ist aus dem Netz verschwunden. Vermutlich war er nach starker Kürzung nicht besonders gut.

Was mir beim Wiederhören des Soulsongs „Hard Times“ (YouTube) auffällt: Curtis Mayfield, der dem Versteinerten, dem Grinser und dem Zeitungsleser für einen Moment einen Soundtrack lieferte, erwähnt in der ersten Strophe auch mich: „Cold, cold eyes, on me they stare.“

Hat auch mich jemand beobachtet, während ich an der Theke saß, mit kaltem Blick die Szene abtastete, um sie später aufzuschreiben? Vielleicht schlummert auf irgendeinem Rechner in Berlin ein Text, der sich um vier Einsame im Schwarzsauer dreht.

Eins noch, um einen falschen Eindruck zu verhindern: Die Bar ist ein guter Ort. Selbst die Touristen konnten ihm nicht viel anhaben. Ich hatte dort schon manch interessante, auch irritierende Begegnung. Für mich ein Grund auszugehen.

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Update: 13. August 2019 Kategorie: Neulich Stichworte: Berlin

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