„Wenn in Indien ein Fahrrad umfällt, sind gleich 500 Leute tot“, sagte der launige Chef vom Dienst in einem Nachrichtensender, für den ich vor ein paar Jahren gearbeitet habe, als wieder mal eine Agenturmeldung von einem Unglück durch den Ticker gekommen war. Diejenigen im Newsroom, die sich auf dem Karriereweg nach oben fühlten, lachten dazu vernehmlich.
Angedeutet war in der kaltschnäuzigen Bemerkung noch etwas anderes: dass es schon einer gehörigen Portion Leichen bedarf, damit eine Nachricht aus dem Subkontinent ins Programm genommen wird.
Obwohl, bei einem Busunglück mit 50 Toten drückte man in der Nachrichtenredaktion schon mal ein Auge zu, solange die Bilder dazu „gut“ waren, wie man so sagte. Eine Nachricht im Film, im TV-Jargon NIF genannt, 15 bis 30 Sekunden lang im Newsblock, war das schon wert. Zumindest wenn die Nachrichtenlage sonst nichts hergab.
Terror und Curry
Dass in Indien schon mal „härter zugelangt“ wird, ist offenbar auch die Meinung des Journalisten Stefan Klein, der seinen „Süddeutsche Zeitung“-Artikel über die Terrorattacken in Mumbai Ende November mit dem Satz „Gewalt gehört zu Indien wie ein gut gewürztes Currygericht“ beginnen ließ.
Und weiter: „Gefühle geraten in Indien leicht in Wallung, Mordlust ist ohne großen Aufwand hervorzurufen, und nach einer Nacht wie dieser stellt sie sich nahezu automatisch ein.“ In einem öffentlich gemachten Leserbrief von Frank Heidemann an die „SZ“ schrieb der Münchner Ethnologie-Professor im Gegenzug das klinge für ihn nach „Rufmordlust“.
Mit dem Tod per Du
Über das Blog Medienlese bin ich heute auf einen Artikel von OutlookIndia.com gestoßen, in dem der Inder Kiran Nagarkar, der sich als Gast der Künstlerprogramms des DAAD in Berlin aufhält, tagebuchartig berichtet, wie er die Terroranschläge via CNN und deutsche Medien erlebt hat. Unversehens fand sich der Schriftsteller in der Rolle eines „Terrorexperten“ wieder – und fragte sich, warum es für die westliche Berichterstattung keine nennenswerten indischen Opfer der Gewalt gab.
The phone keeps ringing constantly. I’m now an expert on the terror attacks in Bombay. I feel like a fraud. I’m whisked off to a radio station which is linked on broadband to a major German TV channel. I’m the Oracle of Delphi and I’m about to tell Germany in my prescient voice what’s going to happen next in Bombay. Okay, we are about to go live. „What do you think about what is happening in Bombay today?“ I can see trouble brewing. For God’s sake, can anyone tell me what is happening to the Indians who were killed or wounded at CST or Cama Hospital? Are there no Indians living in India, or is it that the only people who matter are the foreigners? But I’m sensible and answer the question as honestly as I can. But the next query completely throws me. „Bombay is a soulless and unfeeling place. How do you think the city is reacting …?“ I’m so taken aback that I respond instantly: „Are you kidding? Bombay soulless and unfeeling? Frenetic, yes. Mad energy, yes. But soulless and unfeeling?“ The interpreter comes back at me: „This is a very serious programme, and we don’t expect the use of words like ‚Are you kidding‘ from you.“
Edit: Link entfernt, aus dem Netz verschwunden.
Wer qua indischer Herkunft mit dem Tod anscheinend per Du ist, muss sich wohl für die deutsche Presse zusammenreißen („Stillgestanden!“) – bei den paar Leuten, die da in den Ganges gegangen worden sind …
Ich denke, der Spruch mit dem Fahrrad und den 500 Toten hat in Redaktionen hierzulande noch weitere Kreise gezogen. Der Zynismus bei der Berechnung des Nachrichtenwerts mag im System der Nachrichten begründet liegen. Aber der Rassismus vieler Macher lässt ihn für diese weniger fragwürdig erscheinen.
Auf Jetzt.de gibt es den Text von Herrn Nagarkar in einer deutschen Fassung. Das „Are you kidding“ ist dort mit „Machen Sie Witze!“ übersetzt. Ich hoffe inständig, dass die Worte im Original etwas deutlicher ausgefallen sind.