Wenn ich zu Besuch in meiner Heimatstadt in Bayern bin, genieße ich das Blättern im Lokalteil der hiesigen Presse sehr: Da geht’s in unfreiwilliger Komik um „mutmaßliche Atheisten“, die Graffiti sprühen, Tankstellen-Räuber mit dem besonderen Kennzeichen „sprach Hochdeutsch“, und wenn ein Herrchen mit seinem angebissenen Hund beim Tierarzt nicht drankommt, ist das schon mal einen Aufmacher von einer halben Zeitungsseite wert. Eine ähnlich brisante Nachricht aus einem Essener Stadtteil hat heute das WAZ-Portal DerWesten ins Internet gestellt – im Unterschied zu anderen Provinz- oder Kiez-Possen mit großer Resonanz:
Mehrere Reihenhäuser in Bergerhausen sind in der Nacht auf Samstag mit Eiern beworfen worden. Das berichten Anwohner. An die Briefkästen der Häuser klebten die Täter Zettel mit der Aufschrift „Google’s cool“ („Google ist cool“). Offenbar suchten sie sich ausschließlich solche Häuser aus, die im Panorama-Dienst „Google Street View“ unkenntlich gemacht worden waren.
Online hat der Unfug das Zeug zum Topthema: Auf Rivva fanden heute die verzeichneten Twitter-Reaktionen darauf kein Ende mehr. In den Kommentaren des DerWesten-Artikels und verlinkender Blogs, etwa GoogleWatchBlog oder Ruhrbarone, wurde bei der Gelegenheit wieder hart zwischen Befürwortern und Gegnern des Google-Dienstes gerungen. Und mit Blick auf Google News kann man jetzt schon absehen, dass der Nerd-Streich, der nicht mal strafrechtlich relevant ist, weite Kreise ziehen wird. Der Branchendienst Turi2 hat’s auch schon per Newsletter an den „Medienmacher“ gebracht.
Und somit haben die Eier werfenden Street-View-Fans, die sich in Essen-Bergerhausen als Spaß-Guerilla eines Mega-Konzerns verdingten, eine Lehrstunde zum Mechanismus des Terrorismus erteilt: Ein vergleichsweise kleiner Anlass erzeugt über mediale Verstärkung eine riesige Wirkung.
Ich wüsste gern, wie viele von den Mitmach-Multiplikatoren, die diesen Infoschrott zum Aufreger aufblasen, sich in der vergangenen Woche nach der Terrorwarnung des Innenministeriums total kritisch über Panikmache durch die Medien geäußert haben. Vielleicht war der eine oder die andere absolut empört über die Berichterstattung über die vermeintliche Kofferbombe in Namibia.
Natürlich, der Vergleich der beiden Vorfälle hinkt in Bezug auf die Größenordnung und die gesellschaftlichen Folgen, aber in Grundzügen sind sie einander ähnlich. Wenn jeder im Netz veröffentlichen kann, muss auch für alle gelten: Medienkritik beginnt an der eigenen Tastatur.
Nachtrag, 28. November: Meine Erwartung, dass die Street-View-Posse über das Web 2.0 hinaus zum Aufreger wird, hat sich nicht erfüllt. Jenseits von Trash-Medien und IT-News war wenig davon zu lesen. Offenbar funktionieren die redaktionellen Filterungssysteme doch.