Es ist kurz nach 22 Uhr, die Straßenbahn wartet an der Haltestelle Berlin Alexanderplatz. Plötzlich öffnet sich die Tür im vorderen Teil, eine Frau, vielleicht 40 Jahre alt, tritt ein, bleibt dort stehen und beginnt lautstark einen Monolog. Ihre Stimme ist klar, wirr dagegen der Inhalt ihres Vortrags.
Es geht um Geheimdienste, die Gedankenkontrolle ausübten; diese finanzierten sich, indem sie Minderjährige, vor allem Mädchen, heimlich filmten und bestrahlten. Bald entgleiten ihr die Wörter, und schon ist sie verschwunden, um an einer der hinteren Wagentüren von Neuem anzusetzen. Angesehen hat sie keinen der Fahrgäste.
Widerrede zwecklos
Geheimdienste, Gedankenkontrolle, Strahlenwaffen: kein unbekanntes Vokabular, wenn man sich durch Kommentare auf Blogs, Nachrichtenseiten und durch Forenbeiträge liest. Ich frage mich, ob die Ärmste keinen Internetanschluss hat.
Ihren Mitstreitern, ebenfalls auf der Mission, die Öffentlichkeit wachzurütteln, entgeht keine einzige Eingabefläche im Netz. Überall müssen die von den „Mainstream-Medien“ Manipulierten und durch Computerchips Kontrollierten vor der großen Verschwörung gewarnt werden. Widerrede ist da bekanntlich zwecklos.
Verfolgungswahn 2.0
Diese selbst für Berlin seltene Live-Aufführung des Verfolgungswahns lässt aber eines ahnen: dass unter den Quälgeistern des Web 2.0 einige Menschen sind, die unter ernsthaften psychischen Problemen leiden. Das ist bedauerlich. Und Häme ist oft fehl am Platz (auch wenn’s manchmal beim Ausmaß des Irrsinns schwerfällt).
Ich sehe trotzdem nicht ein, den Kommentarbereich in eine Betreuungseinrichtung zu verwandeln. Deshalb bleibt er bei manchen „brenzligen“ Themen geschlossen. Das hier ist ein Blog, keine psychiatrische Tagesklinik.
Polemik und Beleidigung
Der Genuss, den manche Kämpfer im Namen der Rationalität aus den Online-Auseinandersetzungen mit den Spezialisten für Strahlen, Chips und Paranoia zu ziehen wissen, scheint ebenfalls fragwürdig. Man spürt, wie sie sich daran aufrichten.
Und haben die endlosen Verschwörungs-„Diskussionen“ mit der immergleichen Dramaturgie aus Belehrungen in Logik, Themen-Hopping, dem Schleudern von Links, Zensurvorwürfen, Polemik, zunehmender Erregung, Eskalation bis hin zur persönlichen Beleidigung nicht selbst etwas Verrücktes?
Vielleicht sollte man eher reagieren wie die Fahrgäste in der Straßenbahn: aussitzen, schweigen, weiterfahren.