Ein Leben ohne Uhr scheint heute undenkbar. Ich habe es kurz probiert. Während der Auszeit verlor ich mein Gefühl für die Realität und entdeckte die Ganzheitlichkeit von Fertigpizza.
Haben Sie schon mal versucht, die Uhrzeit vom Display Ihres Handys zu entfernen? Mir ist das nicht gelungen – trotz genauer Lektüre der Gebrauchsanweisung. Das war ein erster Hinweis darauf, dass die zwei Tage ohne Uhr, die ich als Autor für diesen Erlebnisbericht durchleben und beschreiben sollte, im Alltag nicht nur undenkbar, sondern auch unmöglich sind. Der Redakteur, der sich dieses Experiment für mich einfallen ließ, hatte sich vermutlich von seinem letzten Landurlaub noch nicht erholt.
Gerade gestresste Großstädter stellen sich das Paradies so vor: Aufstehen beim Kikeriki, andächtiges Verharren vor Sträuchern und Steinen, betont langsames Kauen kaum gewürzten Grünzeugs und tiefe Gespräche bei Kerzenschein. Womöglich über den Traum, in Südspanien ein Haus zu bauen, Stein für Stein mit eigenen Händen.
All das unterdrückt unsere „Nonstop-Gesellschaft“ gnadenlos, wie die Lifestylepresse und Wellness-Anbieter unaufhörlich mahnen. Stattdessen regiert uns ein gigantisches Uhrwerk, von dessen kalter Mechanik wir angetrieben werden wie Galeerensklaven von Paukenschlägen. Die „innere Uhr“, die uns „Mutter Natur“ in die Wiege legte, tickt nicht mehr richtig.
Meinem Spott für Stadtflüchtlinge zum Trotz: Wie sehr ich selbst dieser „Diktatur“ unterworfen bin, durfte ich bald am eigenen Leib erfahren.
Erste Panik: Wie spät ist es?
Die Panik begann am ersten Morgen des Experiments. Ich erwachte in Schüben, jeder begleitet von dem Impuls, auf die Uhr zu schauen. Doch vergebens: Der Wecker kehrte mir den Rücken zu, das Handy lag außer Reichweite, und selbst die Leuchtdiodenanzeigen diverser Geräte hatte ich am Abend zuvor zugeklebt.
Die Berliner Staatsbibliothek (Stabi) nahe dem Potsdamer Platz, wohin ich mein Notebook verfrachte, wenn mir der Schreibtisch zu Hause zu eng wird, öffnet um neun Uhr. Zwei Stunden später ist dort kein anständiger Arbeitsplatz mehr zu bekommen. Lag ich in der Zeit? Musste ich mich beeilen? Ich wusste es nicht.
Auch ein Blick aus dem Fenster half nicht weiter: Der Himmel war grau, der Stand der Sonne nicht zu erahnen. Frustration und ein Gefühl von Unwirklichkeit erfassten mich – schneller, als ich erwartet hatte.
Auf dem Weg zur U-Bahn konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Vor den meisten Restaurants waren Tische, Stühle und die unvermeidlichen „Heizpilze“ schon aufgestellt. Postzustellerinnen schwärmten aus und wuchteten ihre Rollwagen über den Gehweg.
Vor einer Schule, vier Häuser von meiner Wohnung entfernt, stand eine Gruppe Halbwüchsiger und markierte mit Spucke und Zigarettenkippen ihr Revier. War es vor Unterrichtsbeginn oder in der großen Pause? Ich wagte nicht, sie zu fragen.
Innere Uhr aus deutscher Wertarbeit
Die Bibliothek hatte jedenfalls bereits geöffnet, nur noch wenige Plätze waren frei. Doch das konnte auch am schlechten Wetter liegen. Unterwegs zur Cafeteria, wo ich meinen Morgenkaffee nachholen wollte, geschah es dann einfach: Meine Augen suchten und fanden eine Uhr an der Wand. Es war zehn Uhr, genau der Zeitpunkt, zu dem ich üblicherweise dort auftauche.
Schlagartig fühlte ich mich erleichtert. Die Menschen und Dinge um mich herum schienen wieder einen Rahmen zu bekommen. Trotzdem war ich auch erschrocken: Was für ein gut geölter Mechanismus mein Körper doch ist! Aus deutscher Wertarbeit.
Am zweiten Tag meines Experiments musste ich zu Hause arbeiten. Jemand von der Gasgesellschaft sollte zum Ablesen der Heizung kommen. Mit seinem Erscheinen sei von neun bis 17 Uhr zu rechnen, hieß es auf einem Aushang. In seinem Herzen ist der Berliner doch ein Südländer, bemerkte ich angesichts der großzügig bemessenen Zeitspanne.
Der Hektiker im Blaumann, der nach gefühlten zehn Stunden endlich in meine Wohnung stürzte, ließ sich sein lässiges Naturell allerdings nicht anmerken. Im Slalom sprintete er vorbei an Bücherstapeln von Zimmer zu Zimmer. Meine Frage, ob er denn wisse, wie spät es sei, kleinlaut formuliert, schien er gar nicht wahrzunehmen. Erst an der Wohnungstür presste er ein „Gleich Mittag“ heraus. Dabei sah er mich an, als hätte ich ihm seine Altersversorgung geklaut.
Selbsterfahrung mit Tiefkühlpizza
Als wenig später protestantisch zurückhaltend eine Kirchenglocke bimmelte, hatte ich bereits eine Tiefkühlpizza aus ihrer Verpackung gezerrt. Und dann geschah das Wunderbare: Was sonst ein achtloser, fast schon technischer Vorgang ist, verwandelte sich aufgrund des Uhrenverbots in einen Slow-Food-Selbsterfahrungskurs.
Da ich nicht wie üblich zwölf Minuten bei 220 Grad abwarten konnte, musste ich direkt vor dem Backofen in Stellung gehen. Mit Stechen in den Käsebelag (zieht er Fäden?), geduldiger Beobachtung (ist der Rand schon braun?) und einem Geschmackstest (ist sie wirklich fertig?) war ich ganzheitlich in den Reifungsprozess der Fertigpizza involviert.
Fühlen. Schauen. Schmecken. Ein längst verloren geglaubtes Reich der Sinnlichkeit tat sich auf. Danke, liebe fluter-Redaktion, für so viel Zeit!