Das Einkaufsviertel in Berlin-Mitte ist nicht nur ein großer Laufsteg. Es bietet auch eine Bühne für existenzielle Dramen.
Sie kommt aus dem Schuhgeschäft geschossen, die Plastiktüte mit der eben erworbenen Ware im festen Griff. Entschlossen stürmt sie nach rechts, die Rosenthaler Straße hinauf, doch wenige Schritte nur, und schon strauchelt sie, kurz scheint es, als verlöre sie das Gleichgewicht. Noch im Moment der Verwirrung landet ihr Blick auf dem Schaufenster eines weiteren Schuhladens, einige Meter entfernt von dem, den sie gerade verlassen hat. Fast panisch starrt sie auf die Auslage. Dann fasst sie sich wieder und läuft in die entgegengesetzte Richtung, verschwindet in der Menge der Passanten.
Verwundert blicke ich der jungen Frau hinterher. Was war los mit ihr? Wurde sie unsicher, war die getroffene Wahl die richtige? Suchte sie den Vergleich: Das habe ich erworben, darauf habe ich verzichtet? Hatte der gerade erfüllte Wunsch sie ins Taumeln gebracht, und wurde dieser, einen Augenblick später, wieder entwertet durch die Aussicht auf einen neuen? Was sich in ihr abgespielt hat – ich kann es nur erahnen. Fast jeden Abend, wenn ich das Büro meines Auftraggebers in dieser Straße verlasse, werde ich Zeuge ähnlicher Szenen. Shopping in Berlins Mitte ist ein existenzielles Drama.
Ich bleibe dabei nicht nur Beobachter, aus reiner Boshaftigkeit gehe ich meist vor einem dieser Schaufenster nahe dem Hackeschen Markt in Stellung, während ich auf die Straßenbahn warte. Meine dick gefüllte Umhängetasche verdeckt beiläufig ein Sonderangebot. Das ist verantwortungslos. Einige Passantinnen vollführen akrobatische Kunststücke, um einen Blick an mir vorbei auf Stiefel, Peep-Toes und Ballerinas zu ergattern. Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass eine von 1000 sich dabei verletzen wird.