Nostalgie halte ich für eine menschliche Schwäche, mit der jeder Betroffene am besten allein klarkommen sollte. Ohne andere zu nerven. Das ist nicht nur eine Frage der Selbstdisziplin, sondern auch eine des Ethos: Wie gelingt es sonst, das Neue zu erkennen, zuzulassen, mit ihm etwas anzufangen?
Ich reagiere auch deswegen so schroff auf die Beschwörung einer vermeintlich schillernden Vergangenheit, da ich in Berlin lebe, wo bei jeder Gelegenheit der 20er-Jahre-Mythos aus dem Keller geholt wird, das Hauptstadt-Klischee schlechthin – um Abgeschmacktes, Kleinkünstlerisches, Halbgelungenes, Gescheitertes als irgendwie aufregend und relevant zu verkaufen.
Arm, aber nicht sexy
Damit kein Missverständnis auftritt: Die 20er in Berlin sind wichtig und interessant, bildende Kunst, Fotografie und Literatur (Stichwort Neue Sachlichkeit), gesellschaftliches Leben und politische Kämpfe der Weimarer Republik lohnen unbedingt eine Beschäftigung.
Nur die Weise, wie Einzelpersonen, Gruppen, Szenen und Betriebe in dieser Stadt die immer gleichen Versatzstücke, meist der damaligen Mode entnommen, zu Zwecken der Selbstdarstellung und Imagepflege heranzitieren, bis sie nicht mehr sind als ein Retro-Abziehbild, finde ich schwer erträglich.
Beispiel Berliner Nachtleben: Dort kommen kriselnde Clubbetreiber immer wieder mal auf die Idee, die Spanne zwischen Wunsch (voller Laden) und Wirklichkeit (leere Kasse) durch „Golden Twenties“-Anspielungen und Geraune vom – ganz schlimm – „Tanz auf dem Vulkan“ vertuschen zu wollen. Bedauerlicherweise machen weder Federboa noch Monokel das, was arm ist, sexy.
Zieht man das „Anrüchige“ und das „Abgründige“ ab, mit denen bei solchen Lifestyle-Zeitreisen kokettiert wird, bleibt letztlich vermeintlich geschmackssichere Folklore für Kulturhuber, die ansonsten gern über Volksmusiksendungen und deren Publikum herziehen. Fast schon sympathisch ist dagegen an volkstümlicher Unterhaltung: Sie will nicht mehr sein als das.
Die Schiebermütze macht keine Salonkultur
Nicht wenige unerwünschte E-Mail-Einladungen zu Ausstellungseröffnungen, die ich erhalte, versprechen mir, Kunst durch „Atmo“ aufzuwerten, etwa Reminiszenzen an die Salonkultur der 20er-Jahre. Und Witzfiguren mit Schiebermütze, die besser beim Karneval aufgehoben wären, machen auf Impresario eines exklusiven Kreises.
Die Kunst, die dann am Rande solcher Versammlungen von Langweilern präsentiert wird, ist erwartungsgemäß so miserabel und im schlechtesten Sinne unzeitgemäß, dass dagegen eine mit zusammengeklauten Katzenbildern überladene MySpace-Seite ein atemberaubendes künstlerisches Statement zu Hier und Jetzt darstellt.
Fotocredit: Arthur Kales: „Synchoric Orchestra dancing Schubert’s Unfinished Symphony“ (1919). Aus der Denishawn Collection der New York Public Library. Keine Urheberrechtseinschränkung bekannt.
Nachtrag: Anmerkungen zur Kritik
Nachtrag, 28. September 2009: Der Text wird in einem Forum namens Swingstyle diskutiert, und das bisher durchaus fair (Edit: Link entfernt, nicht mehr zugänglich). Da ich dort nicht angemeldet wird, hier ein paar Bemerkungen zu den aufgeworfenen Fragen. Zunächst einmal handelt es sich um einen Kommentar, nicht um einen Bericht, als solcher ist der Text natürlich aus einer subjektiven Warte verfasst. Dass der Text „pauschalisierend“ wirkt, wie krisiert wird, liegt wohl daran, dass ich keine konkreten Namen der angesprochenen Nervensägen aus dem Berliner Nachtleben genannt habe. Das sei mir verziehen – den zu erwartenden Ärger wollte ich mir nicht antun.
Zu Retro-Phänomenen habe ich tatsächlich ein problematisches Verhältnis. Auch dann, wenn es sich um Szenen handelt, die sich mit Dingen beschäftigen, die mir selbst liegen. Beispiel: Northern Soul. Gerade britische Fans von 60er-Soul habe ich als sehr freundliche Menschen erlebt. Auf den Partys, die die stark vernetzte Szene auch in Berlin regelmäßig veranstaltet, wird es mir aber nach spätestens einer Stunde zu eng. Die Songs für alle Zeiten auf die Weise zu konservieren, wie sie vor Urzeiten von Jugendlichen entdeckt und zur Auskleidung der eigenen Subkultur verwendet wurden, nimmt ihnen meiner Ansicht nach die Kraft, die sie immer noch haben (und unterschlägt meist den politischen Kontext von Afroamerikanern, in dem sie entstanden sind).
Und auch die 20er stecken, wie ich oben schon erwähnt hatte, voller Interessantem. In Berlin ist man ständig mit diesem Jahrzehnt konfrontiert. Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“ etwa, Mitte der 20er geschrieben, bot einen Zugang zu dieser Stadt für mich. Deswegen nervt es mich, wenn das Jahrzehnt als reines Modephänomen und als Floskel-Lieferant verramscht wird (unter Aussparung des politischen Kontexts auch hier).